Viele Menschen kennen Conrad Schumann, ohne zu wissen, wer er war. Er ist nicht nur ein Symbol des Kalten Krieges, sondern vor allem ein Beispiel für Zivilcourage.
Der Übergang nach Westen
Am 15. August 1961 wurde ein junger ostdeutscher Polizist Zeuge der Abriegelung West-Berlins. Zwei Tage lang baute die DDR an dem, was später als Berliner Mauer bekannt werden sollte. Conrad Schumann war 19 Jahre alt. Als angehender Unteroffizier der Bereitschaftspolizei hatte er sich freiwillig für den Einsatz in der ostdeutschen Hauptstadt gemeldet.
Das Unbehagen des jungen Mannes ist jedoch deutlich spürbar. Sein Einsatzbefehl steht in völligem Widerspruch zu seiner Wahrnehmung der Realität vor Ort. Dies ist eine Zeit des Dramas, vor allem des menschlichen Dramas. Wie ein gefangenes wildes Tier ist Schumann hin- und hergerissen zwischen vielen gegensätzlichen Gefühlen. Sollte er über den Stacheldraht springen, der die Grenze zum Westen markiert? Eine Entscheidung von großer Tragweite. Was wird dann mit seiner Familie und seinen Freunden geschehen? Wenn er hingegen bleibt, wird er sich schuldig fühlen wegen des Dramas, wird er seinen Mangel an Mut bereuen? Die Zeit drängt. Nach einer Stunde setzt er zu einem wilden Lauf an, springt über den Stacheldraht und flüchtet in einen westdeutschen Polizeiwagen.
Zwei Fotografien
Auf der anderen Seite des Stacheldrahtes hält der Fotograf Peter Leibing die Szene fest. Von vorne betrachtet ist die Körperhaltung perfekt, die Bewegung auffallend, ein Bein angewinkelt, während es den Stacheldraht überquert. Ein ikonisches Bild ist entstanden. Diese perfekte Aufnahme wurde schnell zur symbolischen Darstellung der Berliner Mauer. Die Medien und Politiker der westlichen Welt betitelten das Foto mit dem markanten Slogan: "Der Sprung in die Freiheit".
Ein Foto, so bemerkenswert seine Ästhetik auch sein mag, bleibt jedoch eine Interpretation. Die Frage des Blickwinkels, der Perspektive des Raumes, lenkt unsere Interpretation und unser Verständnis der Ereignisse. In dieser Hinsicht wirkt das von Leibing aufgenommene Foto heroisch. Es gibt ein weiteres Foto, aufgenommen im Profil und im Moment des Laufs. Diesmal ist Schumanns Gesicht frei zu sehen. Es handelt sich nicht mehr nur um eine Silhouette, sondern um einen Menschen. Man liest Entschlossenheit, vielleicht auch eine kontrollierte Panik, den Blick fest auf die Straße gerichtet. Vor allem aber ist Schumann jetzt allein auf dem Foto, allein gegenüber dem Ungewissen, gegenüber dem Stacheldraht.
Ein normaler Mensch
Schumanns Geste ist ein rasender Wettlauf, eine Flucht, ein individueller Akt, entschieden in der unmittelbaren Dringlichkeit. Ein junger Mann, hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen und Gedanken, getrieben von den Ereignissen. In einem Augenblick hat er die Zeit angehalten und ist in die Geschichte eingegangen. Während seines Lebens in Westdeutschland suchte Schumann keine Berühmtheit. In seinem bayerischen Exil bewahrte er eine fast krankhafte Diskretion und sprach nie öffentlich darüber, dass er der Mann des "Sprungs in die Freiheit" war. Dann hat er sich ein Leben aufgebaut. Er wurde Mechaniker in der Autoindustrie und gründete eine Familie. Ein ganz normales Leben.
Das Trauma des Exils
Doch er kannte das Exil. Er würde sein Handeln nie bereuen, aber er lebte mit dem Schmerz der Trennung. Ein Schmerz, der durch die Tatsache, dass sein Umzug in den Westen nicht durchdacht oder vorhergesehen worden war, noch verstärkt wurde. Er lebt weit weg von seiner Familie, ohne die Hoffnung, sie jemals wiederzusehen. Er, der trotz seiner selbst zum Helden und Symbol geworden war. Ein Besuch in der DDR hätte eine sofortige Inhaftierung oder sogar die Todesstrafe wegen Desertion und Hochverrats bedeutet. Schumann versuchte, einen gewissen Kontakt zu seinen Verwandten aufrechtzuerhalten, denen er regelmäßig Lebensmittelpakete schickte. Vielleicht tat er dies vor allem, um mit sich selbst im Reinen zu sein und um sich daran zu erinnern, woher er kam. Er gibt zu, dass er sich erst nach dem Fall der Mauer im November 1989 "wirklich frei" fühlte. Die Enttäuschung war umso größer, als er versuchte, den Kontakt mit seinen alten Freunden wieder aufzunehmen und nur auf verschlossene, vorwurfsvolle Gesichter stieß.
Er war also der Verräter, der seine Familie im Stich gelassen hatte. Zweifellos hat die Familie daraufhin den Zorn der ostdeutschen Regierung auf sich gezogen. Hier weht der Hauch einer verabscheuungswürdigen deutschen Praxis, der Sippenhaft, bei der die ganze Familie im Namen der sogenannten Mitverantwortung die Folgen eines ihrer Mitglieder zu tragen hatte.
Weit entfernt von den Heldengeschichten entfaltet sich insgeheim eine echte griechische Tragödie. Schumann hat sich nie davon erholt. Er nahm sich mit 56 Jahren das Leben.
Ein Vorbild an Zivilcourage
Das Schicksal von Conrad Schumann erinnert uns daran, dass hinter jedem Heldengeschichte eine menschliche Figur mit ihren Gefühlen und Widersprüchen steht. Wir sollten uns hüten, ein moralisches Urteil über Schumann zu fällen. Er war ein ganz normaler Mensch, den die Ereignisse in ihren Bann gezogen haben.
Sein Bild hat den Propaganda-Interessen der westlichen Welt gedient und ihm selbst wahrscheinlich mehr geschadet als genützt. Die Ironie ist so groß, dass sein Porträt heute auf Postkarten und T-Shirts in Touristenläden zu sehen ist.
Wenn Schumann ein Symbol war, dann ist er das Symbol für persönliche Wege, die durch die Teilung unterbrochen wurden. Er ist mehr als ein Symbol der Vergangenheit, er ist ein Beispiel für die Gegenwart. Seine Geste ist die konkrete Antwort auf die Frage, die sich jeder schon einmal gestellt hat: "Was hätte ich getan oder was würde ich tun, wenn die historischen Ereignisse sich überschlagen?" Dies ist die Frage der individuellen Verantwortung. Die Entscheidung ist schwierig und der Ausgang ungewiss.
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